DER STÄDTISCHE FRIEDHOF CĒSIS

Der städtische Friedhof Cēsis


Der in den 1770er Jahren eingerichtete städtische Friedhof Cēsis – umgangssprachlich auch "Deutscher Friedhof" genannt – ist eine von drei stillgelegten historischen Begräbnisstätten in Cēsis (deutsch: Wenden). Während der sowjetischen Besatzung ist der Friedhof seinem Schicksal überlassen worden und hat umfassende Verwüstungen erfahren. 2023 wurde eine Bestandsaufnahme der noch erhalten gebliebenen Denkmäler abgeschlossen, die Ergebnisse sind auf dieser Website zusammengefaßt.

Über zwei Jahrhunderte hinweg sind auf dem Friedhof Einwohner der Stadt beerdigt worden, die hauptsächlich der evangelisch-lutherischen St. Johannis-Stadtgemeinde, der orthodoxen Christi-Erleuchtungs-Gemeinde und der jüdischen und der Roma-Gemeinschaft in Cēsis angehörten. Die genaue Anzahl der hier Bestatteten ist nicht bekannt, doch hat die Inventarisierung der bis heute erhaltenen Monumente ungefähr 650 Namen erbracht. Mehr dazu im Abschnitt "Bestattete".

Bis in die Gegenwart hinein sind auf dem Friedhof kulturgeschichtlich wertvolle Grabplatten aus dem späten 18. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhalten geblieben, ferner steinerne und gußeiserne Kreuze, Obeliske, Kolonnen und andere Denkmäler aus dem 19. Jahrhundert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein Großteil der Monumente umgestürzt und zerschlagen worden; zig Kreuze aus Marmor und Gußeisen sowie fast alle Abgrenzungsketten für die einzelnen Gräber wurden entwendet. Angaben zu Objekten der Gedenkkultur auf dem Friedhof finden sich im Abschnitt "Denkmäler".

1772

Bis zur Gründung der Republik Lettland 1918 gehört Cēsis als Bestandteil des Livländischen Gouvernements zum russischen Imperium. Dessen Senat erläßt eine Anordnung, wonach im gesamten Zarenreich die Verstorbenen nicht mehr in den städtischen Kirchen und angrenzenden Friedhöfen bestattet werden dürfen. Dementsprechend richtet man in Cēsis zwei neue Friedhöfe außerhalb des damaligen Stadtgebiets ein: an der Landstraße nach Lenči – für die ländliche Gemeinde, auch als Nieder-Friedhof ("Lejas kapi") bekannt, und an der Landstraße nach Rīga – für die städtische Gemeinde.

1785

Auf dem städtischen Friedhof Cēsis wird der Ratsherr und Kaufmann Johann Friedrich Huhn bestattet. Die dazu aus Kalkstein angefertigte Grabplatte ist das älteste erhaltene Momument auf dem Friedhof.

Ca. 1855

Unter Zar Alexander II lockert Rußland Bestimmungen, wonach Juden sich nur im sog. Ansiedlungsrayon niederlassen dürfen. Bestimmte jüdische Berufs- und Standesgruppen erhalten das Recht, sich frei im Lande zu bewegen. Der Schneider Mendel Rosenthal und seine Familie sind die ersten Juden, die nach Cēsis ziehen und dort seßhaft werden. In den nächsten Jahrzehnten wächst die jüdische Gemeinschaft rasch – Ende des 19. Jahrhunderts weist die Stadt bereits 368  volljährige männliche Bürger jüdischen Glaubens auf (Angaben zu Frauen und Kindern liegen nicht vor). In der jüdischen Abteilung des städtischen Friedhofs gehen die ältesten Grabsteine auf die 1870er Jahre zurück.

1869

Der Friedhofsbereich der orthodoxen Christi-Erleuchtungs-Gemeinde Cēsis wird eingeweiht. Die aus Ziegelsteinen gemauerte und mit einem Kuppeldach versehene Grabkapelle hat der ortsansässige Bauunternehmer Wilhelm Hoppe in den 1880er Jahren errichtet.

1876

Es beginnt die Ausweitung des lutherischen Bereichs des Friedhofs in westlicher Richtung. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs erreicht dieser Teil des Geländes seine heutigen Grenzen und erstreckt sich über eine Fläche von ungefähr 1,3 ha.

1907

Der Steinmetz und Unternehmer Augusts Sproģis zieht nach Cēsis, wo er in der Rīgas- Straße 52 unweit des städtischen Friedhofs seinen Betrieb einrichtet. Dort sind zig bis heute auf dem Friedhof erhaltene Grabdenkmäler entstanden.

1909

Die Zahl der Einwohner von Cēsis erreicht 8000, noch Ende des 18. Jahrhunderts waren es lediglich etwas mehr als 1000. Das rasche Bevölkerungswachstum machte die Einrichtung neuer Friedhöfe notwendig. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in Cēsis zwei weitere "Gottesäcker" erschlossen – der Lauciņu- und der Bērzaines oder Brūža-Friedhof.

1919

Auf dem Friedhof sind mehrere Soldaten der Lettischen Nationalgarde oder Landeswehr begraben, die während die Kampfen bei Hinzenberg gefangen genommen wurden und am 6. Februar 1919 von den Bolschewiki getötet wurden. In den 1930er Jahren wurden an den Gräbern der im Ersten Weltkrieg und im Unabhängigkeitskrieg gefallenen Soldaten Betonkreuze aufgestellt.

1939

Im Zuge der Umsiedlungsaktion "Heim ins Reich" verlassen viele Deutschbalten das Land, auch die lutherische Stadtgemeinde Cēsis verliert einen erheblichen Teil ihrer Mitglieder. Der städtische Friedhof tritt ein schweres "Erbe" an: Hunderte von nunmehr ohne Betreuung gebliebene Grabstätten von Deutschbalten.

1941

Im Rahmen einer Vernichtungsaktion werden ungefähr 200 Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Cēsis ermordet und ihre sterblichen Überreste in einem Massengrab unweit des Niniera-Sees verscharrt. Die jüdische Abteilung auf dem städtischen Friedhof wird von nun an nicht mehr betreut.

1941–1944

Auf dem städtischen Friedhof Cēsis werden etwa 400 Deutsche und Letten bestattet, die in den Reihen der Armee von NS-Deutschland gekämpft haben. 2017 erfolgt die Exhumierung der sterblichen Überreste der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Militärangehörigen und die Überführung zum deutschen Soldatenfriedhof in Beberbeķi, Amtsbezirk Babīte.

1944

Zum Zeitpunkt, als die Sowjetunion gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Lettland wiederholt besetzt, ruhen auf dem städtischen Friedhof Cēsis Hunderte von Menschen, die aus Sicht der neuen Machthaber dem als "fremd" und "gegnerisch" definierten deutschen Kulturkreis zuzuordnen sind: Deutschbalten, Männer der Landeswehr und Soldaten, die auf Seiten von Nazi-Deutschland gekämpft haben. Wie viele andere kulturhistorische Denkmäler in Osteuropa fiel auch der sogenannte "Deutsche Friedhof" Cēsis einer gleichsam "ethnischen Rache" zum Opfer. Vielerorts wurde "die Beseitigung von Relikten einer ideologisch feindseligen Vergangenheit" durch das nun herrschende politische Regime unmittelbar umgesetzt, andernorts, wie in Cēsis, äußerte sich dieser Vorgang als alltäglicher, gewissermaßen schleichender Vandalismus, den die Verantwortlichen weitestgehend tolerierten.

1959

Die zuständige Verwaltungsbehörde in Cēsis schließt den Friedhof; neue Bestattungen werden von nun an nur in Ausnahmefällen zugelassen. Das Gelände wird vom lokalen Verband (später: Kombinat) der kommunalen Unternehmen "bewirtschaftet". Der unbeaufsichtigte und ohne angemessene Pflege verbliebene Friedhof erfährt in den nächsten 40 Jahren unzählige Akte des Vandalismus, bei denen die Täter Kreuze abbrechen, Stelen und Postamente umstürzen, Grabplatten von den Grabstellen entfernen, Gräber aufgraben, Ketten der Grabbegrenzungen und gußeiserne Kreuze entwenden und als Altmetall veräußern.

1963

Der Bezirksrat Cēsis erwägt, die auf dem städtischen Friedhof befindlichen Denkmäler einer wiederholten Nutzung zuzuführen: zur Herstellung neuer Gedenktafeln, sowie im Straßenbau. Zu diesem Zweck sollen steinerne Monumente zerkleinert werden. Der Chefarchitektin des Bezirks Cēsis, Vija Caune, gelingt es, die Leitung der Behörde davon zu überzeugen, daß die Zerstörung der Denkmäler zu "Schwierigkeiten" führen könnte, sollten sich im Ausland lebende Angehörige eines Tages für die Grabstätten interessieren. Das Vorhaben wird nicht umgesetzt.

1977

Der Stadtrat Cēsis faßt den Beschluß, den städtischen Friedhof um 500 m 2 zu verkleinern. Dazu soll der zu "liquidierende Teil" entlang der Rīgas-Straße zu einer Grünanlage umzugestalten werden, die vom übrigen Friedhofsgelände durch eine Hecke abgegrenzt wird. Das Kombinat der kommunalen Unternehmen wird beauftragt, "herrenlose Monumente, Tafeln und Gitter ohne jeglichen kulturellen und materiellen Wert" zu beseitigen. Aus derzeit nicht mehr bekannten Gründen kommt es jedoch nicht zu den geplanten Maßnahmen.

1988

Im Zuge der lettischen Unabhängigkeitsbestrebungen seit Mitte der 1980er Jahre thematisieren zwei Einwohner von Cēsis, Daumants Kalniņš und Verners Rudzītis, in der Lokalzeitung Padomju Druva (Sowjetisches Kornfeld) die Notwendigkeit, das Gelände des städtischen Friedhofs wieder herzurichten, zu erforschen und zu erneuern. Einwohner der Stadt lassen in Eigeninitiative Taten folgen, es finden die ersten gemeinschaftlichen Aufräumaktionen statt. In der orthodoxen Abteilung des Friedhofs restauriert die Ortsgruppe Cēsis des Vides aizsardzības klubs (Klub zum Schutz der Umwelt) das von Vandalen umgestürzte und zerschlagene Denkmal für den Helden des lettischen Unabhängigkeitskriegs und späteren General in der Armee Lettlands, Jānis Apinis.

2023

Die Inventarisierung der auf dem Friedhof erhaltenen Denkmäler und, soweit möglich, eine Erfassung der biografischen Angaben zu den dort bestatteten Personen sind abgeschlossen. In Anschluß an die Erstellung einer genauen topographischen Karte und an eine dendrologische Bestandsaufnahme soll nun ein Sanierungskonzept erarbeitet werden, damit im Laufe der kommenden Jahre praktische Maßnahmen zur Erneuerung des Friedhofs angegangen werden können.